Montag, 21. Oktober 2013

briefe an henri vol. 6 - Herbstspaziergänge und Arztromane

Lieber Henri,

Um bei den Fussballanalogien zu bleiben: Das Leben liebt es, einem gepflegt in die Beine zu grätschen. Wie ich sehe, ist dir deine Beobachtungsgabe nicht abhanden gekommen. Gut für dich. Man muss das bisschen Freude im Alltag entdecken, auch wenn es sich in Wagenladungen voller Scheisse versteckt. Meine Lage in den vergangenen Wochen war alles andere als rosig. Mit meinen Investments lief es gar nicht. Die amerikanischen Kindergartenstreitereien haben mir noch die letzte Rendite gekillt. Musste einige Aktien mit Verlust verkaufen um wenigstens wieder flüssig zu sein und von Deutschland heim zu reisen. Ich war auch ziemlich am Arsch. Es wurde mir alles zu viel. Reisestrapazen. Existenzängste. Zeitdruck. Herbstdepression. Kacke! Ich blieb also mal Zuhause und überdachte mein Geschäftsmodell. Hab viel zeitgenössische klassische Musik gehört (Philip Wesley, Ólafur Arnalds, Ludovico Einaudi, Yiruma, etc.). Hab viel gelesen. Hab Spaziergänge gemacht im gefallenen Herbstlaub. Hab gut gegessen und trainiert. Hab meinen Geist ruhen lassen. Hab gesoffen und gefickt. Kurz und gut: Ernie tat, was zu tun war. Momentan mache ich wieder ein paar Auftragsarbeiten. Was Grafisches für ein ostschweizer Schwerindustrieunternehmen und ein paar Marketingwixereien für ein KMU (Konzepte nach Vorlage). Kleine Brötchen, aber ich muss die laufenden Kosten decken. Hätte nochmals für einen Monat nach Polen können, aber das hätte mir den Rest gegeben. Wie du siehst, ich stehe am Scheideweg. Ich verstehe mich selbst auch als Farbklecks in der Monotonie. Nur leider kann ich der Monotonie nicht entgehen. Es ist alles wie früher, als ich noch meine Festanstellung hatte. Ich bin zwar immer unterwegs und die Fressen sind nie die Selben, aber unterm Strich ist es doch jeden Tag die gleiche Kacke. Es hat sich nichts verändert.Man könnte sagen, meine Selbstständigkeit ist ein Phantomtor. Alles Illusion und (Selbst-)Täuschung. Da machst du es schon beser. Musste eben schmunzeln als ich mir deine Uschi im Louvre vorgestellt habe. Sie war bestimmt die grössere Attraktion als die Mona Lisa… Ich denke, dein Verständnis für  Kunst ist mehr wert, als das angestaubte Fachwissen von Studierten. Man kann noch soviel über Kunst lernen, aber fühlen kann man sie erst, wenn man im Montmartre gevögelt hat. So seh ichs auch mit der Musik und der Literatur. Man kann Céline, Dostojewski, Hemingway und die anderen alten Scheisser in der Universität lesen und lernen, aber wenn man es nicht fühlt, dann kann man gleich einen Arztroman vom Kiosk lesen und sich wie eine fünfzigjährige Hausfrau einen auf Dr. Frank rubbeln. Was ist das überhaupt für ein kranker Fetisch mit diesen Ärztefantasien? „Schicksale um Ärzte und ihre Patienten“. Hippokrates würde sich im Grab umdrehen! In Sachen Literatur plädiere ich für den echten Scheiss, der auf keinem Lehrplan steht. Die Outlaws, die Geächteten und Verbannten ihrer Zeit. Es sind Leute wie du und ich, die etwas mit Herz machen. Wie sagte doch Russel Crowe: „Brüder, in der Ewigkeit wird man sich eurer Taten erinnern!“

Herzliche Grüsse


Ernie

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