Lieber Henri,
Um bei den Fussballanalogien zu
bleiben: Das Leben liebt es, einem gepflegt in die Beine zu grätschen. Wie ich
sehe, ist dir deine Beobachtungsgabe nicht abhanden gekommen. Gut für dich. Man
muss das bisschen Freude im Alltag entdecken, auch wenn es sich in Wagenladungen
voller Scheisse versteckt. Meine Lage in den vergangenen Wochen war alles
andere als rosig. Mit meinen Investments lief es gar nicht. Die amerikanischen
Kindergartenstreitereien haben mir noch die letzte Rendite gekillt. Musste einige
Aktien mit Verlust verkaufen um wenigstens wieder flüssig zu sein und von
Deutschland heim zu reisen. Ich war auch ziemlich am Arsch. Es wurde mir alles
zu viel. Reisestrapazen. Existenzängste. Zeitdruck. Herbstdepression. Kacke! Ich
blieb also mal Zuhause und überdachte mein Geschäftsmodell. Hab viel
zeitgenössische klassische Musik gehört (Philip Wesley, Ólafur Arnalds,
Ludovico Einaudi, Yiruma, etc.). Hab viel gelesen. Hab Spaziergänge gemacht im
gefallenen Herbstlaub. Hab gut gegessen und trainiert. Hab meinen Geist ruhen
lassen. Hab gesoffen und gefickt. Kurz und gut: Ernie tat, was zu tun war. Momentan
mache ich wieder ein paar Auftragsarbeiten. Was Grafisches für ein ostschweizer
Schwerindustrieunternehmen und ein paar Marketingwixereien für ein KMU
(Konzepte nach Vorlage). Kleine Brötchen, aber ich muss die laufenden Kosten
decken. Hätte nochmals für einen Monat nach Polen können, aber das hätte mir den
Rest gegeben. Wie du siehst, ich stehe am Scheideweg. Ich verstehe mich selbst
auch als Farbklecks in der Monotonie. Nur leider kann ich der Monotonie nicht
entgehen. Es ist alles wie früher, als ich noch meine Festanstellung hatte. Ich
bin zwar immer unterwegs und die Fressen sind nie die Selben, aber unterm
Strich ist es doch jeden Tag die gleiche Kacke. Es hat sich nichts verändert.Man
könnte sagen, meine Selbstständigkeit ist ein Phantomtor. Alles Illusion und
(Selbst-)Täuschung. Da machst du es schon beser. Musste eben schmunzeln als ich
mir deine Uschi im Louvre vorgestellt habe. Sie war bestimmt die grössere
Attraktion als die Mona Lisa… Ich denke, dein Verständnis für Kunst ist mehr wert, als das angestaubte
Fachwissen von Studierten. Man kann noch soviel über Kunst lernen, aber fühlen
kann man sie erst, wenn man im Montmartre gevögelt hat. So seh ichs auch mit
der Musik und der Literatur. Man kann Céline, Dostojewski, Hemingway und die
anderen alten Scheisser in der Universität lesen und lernen, aber wenn man es
nicht fühlt, dann kann man gleich einen Arztroman vom Kiosk lesen und sich wie
eine fünfzigjährige Hausfrau einen auf Dr. Frank rubbeln. Was ist das überhaupt
für ein kranker Fetisch mit diesen Ärztefantasien? „Schicksale um Ärzte und
ihre Patienten“. Hippokrates würde sich im Grab umdrehen! In Sachen Literatur plädiere ich für den echten Scheiss, der auf keinem Lehrplan steht. Die Outlaws, die Geächteten
und Verbannten ihrer Zeit. Es sind Leute wie du und ich, die etwas mit Herz
machen. Wie sagte doch Russel Crowe: „Brüder, in der Ewigkeit wird man sich eurer Taten erinnern!“
Herzliche Grüsse
Ernie